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Die Automobilindustrie nach COVID-19: beschleunigte Transformation der Branche

Helene Kehren - 22. Juli 2020
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2020 erlebte die Automobilindustrie weltweit einen bislang einmaligen, abrupten Nachfrageeinbruch. Prognosen von Branchenexperten geben einen kleinen Einblick in die Schwerpunkte der Branche in den kommenden Jahren.

Im Interview sprach Matthieu Simon, Partner bei Roland Berger, mit mir über die Auswirkungen von COVID-19 auf die Automobilindustrie. In unserem Q&A-Video erörtern wir zudem Themen wie:

  • den Zusammenhang zwischen dem BIP und der Automobilindustrie

  • COVID und die Penetration von Online-Kanälen in allen Automobilsegmenten

  • die Lage im Aftermarket und Ersatzteilmarkt

  • die drei wichtigsten Transformationsansätze für die Erholung der Automobilindustrie

// Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung unseres Gesprächs. Das vollständige Interview finden Sie auf Youtube. //

COVID-19 und die Folgen für die Automobilindustrie

Dickel Sooriah : Matthieu, schön, dass Sie bei uns sind! Wir wollen heute über die aktuelle Lage in der Automobilbranche sprechen. Sie ist bekanntermaßen ein essenzieller Wachstumstreiber und mit über 40 Mio. Beschäftigten in Europa sowie acht Mio. Beschäftigten in den USA ein wichtiger Wirtschaftssektor.

Die COVID-19-Krise hatte weitreichende Folgen für die Branche. Die Aufgabe lautet jetzt nicht nur, die Pandemie zu bekämpfen, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die Automobilindustrie im Allgemeinen einzudämmen.

Ganz besonders interessiert mich daher, wie sich der Wirtschaftssektor durch diese schwierige Zeit manövriert und welche Digitalisierungsinitiativen wir in den nächsten Monaten und Jahren von Branchenführern erwarten können.

Zweifelsohne kommen auf die Automobilbranche zahlreiche Veränderungen zu. Wie hat sie sich in der COVID-19-Pandemie Ihrer Meinung nach geschlagen und wie sieht sie ihren Weg aus der Krise?

 

Matthieu Simon : Die aktuelle Krise ist die größte seit dem Zweiten Weltkrieg und hat auch vor der Automobilbranche nicht Halt gemacht.

In den Krisen der 70er-, 80er- und 90er-Jahre gab es immer einen Zusammenhang zwischen BIP und Neuwagenabsatz.

Während der Finanzkrise 2008 ist das BIP in Europa um 7 % und, damit einhergehend, der Absatz von Neuwagen um 23 % geschrumpft.

Vor allem müssen wir beachten, dass sich die Erholungsphase sehr lange hingezogen hat. In Europa hat es sechs Jahre gedauert, bis das BIP nach dem Einbruch 2008 schließlich im Jahr 2014 wieder Vorkrisenniveau erreicht hatte. Im Automobilsektor fiel der Rückgang noch größer und die Erholungsphase noch länger aus. In zehn Jahren mussten wir drei Krisen verdauen. 

Man könnte denken, dass die aktuelle Krise in etwa auch so verläuft. Dieses Mal aber ist es anders. 

Wir haben einen weltweiten Lockdown erlebt, in dem – je nach Land – alles für zweieinhalb oder sogar drei Monate auf Eis gelegt wurde.

2020 wird der Verkauf von Neuwagen in Europa daher zwischen 25 % und 40 % zurückgehen, je nachdem, welche Anreizprogramme die Länder entwickeln, um die Kaufkraft der Haushalte zu stützen (Zahlenupdate Januar 2021: -22,4%). Denn auch hier besteht ein Bezug zur Wirtschaftskrise.

Der Neuwagenabsatz dürfte 2021 in Europa wieder um 12 bis 25 % steigen. Eine Erholung erfolgt 2021 aber nicht. Wir werden wahrscheinlich mindestens sieben bis acht Jahre brauchen, bis wir in Europa wieder ähnliche Zahlen wie vor der Krise verzeichnen.

In den USA erwarten wir sogar einen noch stärkeren Einbruch. In unserer aktuellen Prognose gehen wir davon aus, dass der Neuwagenabsatz im Jahr 2020 zwischen 30 und 40 oder 45 % zurückgehen wird (Zahlenupdate Januar 2021: -15%).

Gute Nachrichten erreichen uns aus dem Osten und insbesondere aus China, wo COVID-19 schon früher einschlug.

China erwartet einen Rückgang von 12 bis 20 % (Zahlenupdate Januar 2021: -6,8%), wird aber dank der geplanten staatlichen Unterstützungsinitiativen Ende 2021 – oder eher Anfang 2022 – wieder sein Vorkrisenniveau erreichen.

Untermauert werden diese Zahlen von den Förderprogrammen, die Frankreich, Deutschland und das restliche Europa fahren. Derzeit sind verschiedene Rettungspläne in der Mache, die denjenigen aus der Krise von 2008/2009 ähneln und umweltfreundliche Elektro- und Hybridautos fördern.

All diese Maßnahmen brauchen wir heute, um Land, Branche und Beschäftigung zu schützen. In Frankreich ist etwa eine Million Menschen direkt in der Automobilindustrie tätig. 40 % davon sind in vorgelagerten Funktionen der Wertschöpfungskette beschäftigt, 60 % in nachgelagerten Funktionen.

 

COVID und die Penetration von Online-Kanälen in allen Automobilsegmenten

Dickel Sooriah : Damit hätten wir die Zusammenhänge geklärt, vielen Dank! Betrachten wir das Ganze nun einmal aus vertrieblicher Sicht. 

Einer unserer Schwerpunkte bei Mirakl ist der Einzelhandel. Wir konnten beobachten, dass der Online-Handel wirklich boomt, und sehen an den Zahlen, dass er im Vereinigten Königreich und den USA in den letzten acht Wochen genauso stark gewachsen ist wie in den letzten zehn Jahren. In der Automobilbranche erfolgt der Vertrieb über Neuwagenhändler. Nun in der Pandemie schwächelt der Verkauf. Wie Sie bereits sagten, ist der weltweite Lockdown der Knackpunkt der aktuellen Krise.

Was bedeutet diese Krise für die Penetration von Online-Kanälen in den verschiedenen Automobilsegmenten? Konnten Interessierte beispielsweise Fahrzeuge für eine Testfahrt direkt an die Haustüre bestellen? Was sind hier Ihrer Meinung nach die wichtigsten Erkenntnisse?

 

Matthieu Simon : Die Digitalisierung in den einzelnen Bereichen der Automobilindustrie war bereits vor COVID im Gange, primär in vorgelagerten Funktionen der Wertschöpfungskette, aber auch in der Fertigung und im Engineering. Im nachgelagerten Teil richtete sich die Digitalisierung auf den Verkauf von Neu- und Gebrauchtwagen oder Ersatzteilen an Direktkunden, Werkstätten oder Vertragshändler.

Wir gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung nach COVID beschleunigt.

Mit der Coronakrise ist der Digitalisierungsbedarf geradezu explodiert. Durch die somit beschleunigte Digitalisierung konnten wir im Online-Handel viele neue Customer Journeys erleben. Die Leute kaufen allmählich alles online, Gesundheits- und Unterhaltungsprodukte, Elektronikartikel usw. In Zukunft werden sie erwarten, dass auch weit komplexere Dinge wie Autos oder Ersatzteile online verfügbar sind. 

COVID-sicheres Einkaufen hat jetzt höchste Priorität für Endkunden. Wir müssen also überlegen, wie sie ohne Infektionsrisiko an Autos, Pkw-Ersatzteile oder Wartungsdienste kommen.

Digitale Kanäle sind wahrscheinlich ein Weg, um die Customer Journey zu vereinfachen oder ohne Infektionsrisiko einzukaufen.

Aktuelle Praxisbeispiele sehen wir im digitalen Vertrieb. So vieles lässt sich online erledigen: Wir können unser Auto konfigurieren, uns vorab über Fahrzeuge informieren, Abhol- oder Abstellorte für Reparaturen vereinbaren usw. Das sind nur einige wenige Beispiele, die aber die aktuelle Entwicklung unter verschiedenen OEMs, Autobauern und unabhängigen Händlergruppen vorgeben.

Vor COVID galten diese Servicearten als Premiumdienste, an denen zahlreiche französische Start-ups, aber z. B. auch chinesische Autobauer arbeiteten.

Jetzt werden sie Standard.

Zudem müssen Autohersteller Offline-Services entwickeln und fördern, wenn sie an der Spitze ihrer Branche bleiben wollen. Sie müssen die Beziehung zu ihren Endkunden, aber auch Händlernetzen revolutionieren – andernfalls werden sie nach der COVID-Krise kaum überleben.

Neben Leasingservices gehört das zu den Erwartungen der Kunden.

Ob Neuwagen- oder Langzeit-Leasing: All das ebnet den Weg für Digital Player wie Amazon und Alibaba, die wir früher noch als „Barbaren“ bezeichnet haben und die nun durch die COVID-Pandemie und damit die Beschleunigung der Digitalisierung erstarkt sind.

 

Der Trend zum Gebrauchtwagen – und die Reaktion der Branche

Dickel Sooriah : Wie unsere Daten zeigen, legt die Zahl der Gebrauchtwagen deutlich zu. Wir beobachten, dass Online-Händler den traditionellen Vertrieb von Gebrauchtwagen ordentlich aufmischen und dank digitalaffiner Kunden massiv Wachstum verzeichnen. Der Online-Handel bietet umfassende Kaufmöglichkeiten und einzigartige Lieferoptionen. Denken Sie, dass sich diese Entwicklung im Gebrauchtwagenhandel fortsetzen wird?

 

Matthieu Simon : Jeder weiß, dass uns eine heftige Wirtschaftskrise bevorsteht: Frankreichs BIP wird 2020 voraussichtlich um 12 % sinken (Zahlenupdate Januar 2021: -9%), in Spanien und Italien werden wir wahrscheinlich einen ähnlichen Rückgang erleben. 

Damit wird auch die Kaufkraft der Haushalte sinken. Überträgt man Maslows Bedürfnishierarchie auf die Haushalte, zählen Autos sicher nicht zum Grundbedarf. Viele werden sich also wahrscheinlich für einen Gebraucht- statt einen Neuwagen entscheiden.

Der Gebrauchtwagenhandel stand schon vor der Krise im Zeichen der Digitalisierung: Die traditionellen C2C- und C2B2C-Kanäle wurden immer mehr digitalisiert und mit spezialisierten Akteuren oder breit aufgestellten Marktplätzen verknüpft. Logischerweise wird sich diese Entwicklung nach der COVID-Krise beschleunigen.

Gleichzeitig erwarten Endkunden von Anbietern verstärkt Leasing-Optionen, nicht nur bei Neu-, sondern auch bei Gebrauchtwagen. Wir gehen davon aus, dass auch Autobauer derartige Optionen vorantreiben werden. 

Die Vorreiter unter den Autoherstellern überlegen bereits, welche Form von Langzeit-Leasing sinnvoll ist. Hierbei verkaufe ich das Auto nicht direkt, sondern vermiete es lieber an einen Vertragshändler. Im Grunde kann ein Auto ab dem ersten Tag für bis zu zehn Jahre verleast werden. Am Ende kommt man dabei auf zwei bis vier Kunden:

  • Kunde Nummer 1 least den Neuwagen vier Jahre.

  • Kunde Nummer 2 übernimmt ihn vom fünften bis zum siebten Jahr.

  • Kunde Nummer 3 least schließlich vom achten bis zum zehnten Jahr. 

Dazu kommt eine Monatsgebühr, die nicht nur die Nutzung, sondern auch Reparatur und Wartung umfasst.

Dem Kunden gehört das Auto nicht mehr, sondern er least es vom OEM, der es repariert und wartet. Für den OEM hat das zwei Vorteile:

  • Er erfüllt die Erwartung des Kunden.

  • Er sichert eine langfristige Nutzung von bis zu zehn Jahren.

Der Endkunde hingegen verfügt über ein Auto, muss sich aber nicht um Wartung oder Weiterverkauf kümmern.

 

Lieferkette und Ersatzteile

Dickel Sooriah : Ein sehr interessanter Einblick in das Leasing-Geschäft. Sie haben den Aftermarket angesprochen, darum dreht sich auch meine nächste Frage – und zwar speziell um Ersatzteile. In der COVID-Pandemie wurde der Handel, z. B. durch Grenzschließungen, von staatlicher Seite eingeschränkt, Ersatzteile wurden knapp, stockende Teilelieferungen zeigten ihre Auswirkungen. 

Wie steht es bei den OEMs wirklich um die Digitalisierung? Müssen sie einen Zahn zulegen? Wir haben gesehen, wie sich ein eingeschränkter Personaleinsatz auswirkt und was Quarantänemaßnahmen für die Just-in-Time-Produktion bedeuten können. Sind robustere Lieferketten für Ersatzteile möglich?

 

Matthieu Simon : Im Aftermarket beobachten wir einen klaren Trend zur Beschleunigung der Digitalisierung. OEMs müssen die Digitalisierung der Customer Journey weiter vorantreiben. 

Verglichen mit den genannten „Barbaren“ wie Amazon oder Alibaba sind sie recht spät dran. Diese Online-Riesen sind im Großhandel mit Ersatzteilen bereits präsent, das gilt vor allem für Alibaba in China und Amazon in den USA. Auch in Europa weiten sie ihren Einfluss über Partnerschaften aus.

Aber auch im Vergleich mit den unabhängigen Großhändlern im Aftermarket hinken OEMs bei der Digitalisierung, vor allem beim B2B-Verkauf von Ersatzteilen, ziemlich hinterher. 

Manche OEMs setzen sich aber bereits von ihrer Konkurrenz ab: Renault beispielsweise arbeitet an einem Marktplatz für Ersatzteile, der nicht nur seinen eigenen, sondern auch anderen Werkstätten offensteht, und auch PSA beschäftigt sich mit solchen Lösungen.

 

Top-3-Transformationsansätze für Branchenführer der Automobilindustrie

Dickel Sooriah: Das klingt spannend. Noch eine letzte Frage, Matthieu: Einige Branchenführer werden Anspruch auf Finanzhilfen haben, dafür aber zukunftssichere Investitionen nachweisen und entsprechende Garantien vorlegen müssen. Was sind Ihrer Meinung nach für solche Unternehmen die drei wichtigsten Transformationsansätze?

Matthieu Simon : Die drei wichtigsten Bereiche sind wahrscheinlich Neuwagen, Gebraucht-Pkw und Aftermarket.

  1. Langzeit-Leasing: Beim Verkauf von Neufahrzeugen werden die entscheidenden Schlachten wohl beim Langzeit-Leasing, über das wir bereits gesprochen haben, geschlagen werden. Dabei gehört das Auto dem OEM, der es in einem Zeitraum von bis zu zehn Jahren an mehrere Kunden verleast. Der Endkunde zahlt nur für die Nutzung und die Reparatur. Dieses Thema ist meiner Ansicht nach sehr wichtig. Hier werden die fortschrittlichsten OEMs sicherlich einen großen Teil des künftigen Markts unter sich aufteilen.

  2. Gebrauchtwagen: In unsicheren Zeiten wie diesen steigt der Anteil an Gebrauchtwagen im Markt voraussichtlich. Die Branchenakteure werden über ihre Vertragshändler und direkten Netzwerke, aber auch im C2B2C-Format über Multibrand-Marktplätze zunehmend im Gebrauchtwagenmarkt mitmischen können. 

  3. Aftermarket: Der Aftermarket ist seit jeher ein stabiler und rentabler Wachstumsmarkt, der in den kommenden Jahren weiter an Größe und Wert zulegen dürfte.

 

Dickel Sooriah : Sehr schön. Wie wir sehen, durchläuft die Automobilbranche derzeit also eine große Transformation, die sich sogar beschleunigt. Vielen herzlichen Dank, Matthieu, für Ihre einzigartigen Einblicke und Ihre Zeit! Und vielleicht können wir auch schon bald über den Aufstieg der Plattformökonomie in der Automobilbranche sprechen…

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Helene Kehren,

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